Eine Rekapitulation des von mir besuchten Vortrags der IYSSE: “Der Aufstieg der AfD und die Lehren der 1930er Jahre” | Humboldt-Universität am 10.01.2018 // 18:30 Uhr. Gehalten von Sven Wurm. Mit längeren Einlassungen von meiner Seite.
Heute werden wir uns zur Abwechslung mal auf eine Reise in die Gedankenwelt linker Studentenparteien begeben. Gegen meine sonstige Gewohnheit habe ich gerade einen Ortsbesuch bei einer therapeutischen Sitzung der Partei IYSSE an der Humboldt Universität Berlin hinter mir. Ein Freund hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Treffen stattfinden würde und ich habe mich in einen Zug nach Berlin gesetzt, um dem abendlichen Vortrag zu lauschen und möchte euch natürlich auch an den dargelegten Gedankengängen teilhaben lassen. Weil ich einiges daran auszusetzen habe und weil das hier ein Beispiel für die Gedankenwindungen der linken Ränder sein soll, wird der Text eine relativ hohe Wiedergabe-Tiefe und damit Länge erreichen. Macht euch also am besten einen Tee oder Kaffee und nehmt euch eine akademische Halbe bis Stunde.
An der Humboldt finden demnächst die Wahlen zum Studentenparlament pardon Studierendenparlament statt und natürlich, wie das inzwischen in Hochschulkreisen üblich ist, besteht der übervolle Wahlzettel wahrscheinlich bis über die Hälfte aus linken Vereinen und Parteiungen. Man kann sicher fragen, wie viele linke Parteien man braucht und da muss man schon vorher wissen, dass links nicht gleich links ist und dass es da gravierende(!) Unterschiede gibt, zum Beispiel in der Frage, wie man sich nennen soll (kleiner Spaß so würde South Park das vermutlich auflösen) oder welcher Strömung der marxistischen Theorie und ihrer Erben man sich zugehörig fühlt, was auch wieder zur Frage nach dem Namen zurückführt, oder wie radikal man zu sein gedenkt. Der linksbewegte Student kann also bei einem breiten Angebot von den fast schon konservativ erscheinenden Jusos, über die Linksjugend bis hin zu marxistischen, leninistischen, stalin- oder maoistischen Sektierer-Parteien sein Kreuz machen. Und je nachdem ob er heute in revolutionärer oder reformistischer Stimmung ist, dann diese oder jene Geschmacksrichtung auswählen. Der Kapitalismus bietet uns 50 Sorten Zahnpasta, der Kommunismus uns etliche verschiedene Varianten seiner selbst an.
Natürlich ist angesichts der nahenden StuPa-Wahlen jeder dieser Vereine gewillt, sich vorzustellen. Und ich will auch darauf verweisen, dass dieser Vortrag als Teil des Wahlkampfes zu sehen ist und vielleicht auch deshalb etwas zugespitzter formuliert war, aber seht dann selbst. Und die IYSSE möchte das natürlich auch tun und hat eben zu diesem Vortrag geladen. Die IYSSE, das sollte man wissen, ist eine trotzkistisch orientierte, marxistisch-leninistische Gruppierung, eindeutig proletarisch-revolutionär eingestellt und internationalistisch ausgerichtet und sieht sich hierbei als Ableger einer von Trotzki angedachten 4. Internationale, die aufgebaut werden soll. Eine gewisse Berühmtheit, eher Berüchtigtheit, hat sich die Gruppe durch ihre Kritik an und Aktionen gegen den an der HU lehrenden und in linken Kreisen umstrittenen Jörg Baberowski sowie den ebenfalls an der HU lehrenden Herfried Münkler erworben. Es erscheint mir möglich, das ist aber nur meine Vermutung, dass die Studenten von IYSSE auch schon an der Münkler-Watch-Causa von vor einiger Zeit beteiligt gewesen waren.
Soviel zum holzschnittartigen Mindset dieser Leute. Warum ich mich überhaupt angesichts einer Auswahl von dutzenden solcher studentischer Kleinstparteien jetzt ausgerechnet zu diesem Vortrag bequemt habe, liegt nicht daran, dass ich sie für besonders einflussreich halte oder für besonders exemplarisch, auch wenn sie einen guten Eindruck davon geben, wie im Groben auch ihre Gesinnungsbrüder aus den anderen Gruppen ticken. Mein Grund dorthin zu fahren, war Titel bzw. Thema des Vortrages.
„Der Aufstieg der AfD und die Lehren der 1930er Jahre“ war die Überschrift des Ganzen und vortragen sollte mit Sven Wurm der Sprecher der Partei an der HU, seines Zeichens Student der Geschichte. Nun sind AfD und Nazi-Vergleiche nichts Neues aber mal wirklich eine ausformulierte historische Analogie erschien mir dann doch interessant anzuhören und man sagt ja: auch mal außerhalb der eigenen Filterblase schauen; also eben in die Bahn und dem Vortrag lauschen. Ich will redlicherweise anmerken, dass ich vorher freilich schon gewisse Erwartungen und Vermutungen hatte, wie die Bezüge und die Argumentation gefahren werden würden und wurde diesbezüglich auch nicht überrascht. Aber der Reihe nach.
Die Veranstaltung war relativ gut besucht. Ein etwas größerer Seminarraum war zu Beginn gut gefüllt. Einige wenige Nachzügler mussten dann noch mit dem Boden Vorlieb nehmen, bevor später ein paar Plätze frei wurden. Interesse war also vorhanden, wenn auch die vorderen Plätze mit Anhängern und einigen sichtlich älteren Gästen schon belegt waren. Natürlich präsentierte sich die IYSSE noch einmal und unser gegenwärtiger zeitpoltischer Kontext, insbesondere das Erstarken der AfD, wurde kurz erörtert, um dann zum eigentlichen Vortrag überzugehen. Filmen, Fotographieren oder Tonaufnahmen waren untersagt. Ich bin eher selten auf solchen Vortragsveranstaltungen und kann daher nicht beurteilen, wie üblich das ist, da es aber eine öffentliche Veranstaltung war, kann man dennoch nicht von klandestin sprechen, was aber natürlich die Wiedergabe des Gesagten trotzdem für mich jetzt etwas aufwendiger macht.
Den Vortrag selbst kann man grob in drei Teile gliedern. Zunächst einmal den Aufbau eines Gegenwartsnarrativs, dann eine folgende Gegenüberstellung der historischen Situation der Machtergreifung verbunden mit dem Implizieren einer Vergleichbarkeit und Parallelität der Vorgänge und schließlich eine Schlussfolgerung mit Maßnahmenangebot, dass dann auf Eigenwerbung für die eigene Partei und Bewegung hinausläuft.
Die Verrechtung der gegenwärtigen Gesellschaft
Die zentrale These des Vortrages bildete auch gleich den Aufhänger. Der Aufstieg der AfD, das stimmt auch soweit, kam nicht einfach irgendwoher, also nicht aus dem politischen oder ideologischen Nichts heraus. Dies umfasse im wesentlichen drei Linien, nämlich einmal, dass die AfD, dass ist sein direkt anschließender Punkt, aus anderen Parteien entstanden ist und von ihnen gebraucht bzw. genutzt würde, zweitens sie vor allem ein Symptom einer Krise des Kapitalismus sei und drittens wir die Vorlage des Vorgangs in der Geschichte des Aufstiegs der NSDAP der 20er und 30er Jahre finden würden.
Die Grundannahme, das ist wichtig sich zu verdeutlichen, ist schon, dass die AfD als politische Kraft vornehmlich als eine Funktionskomponente, als Rolle im kapitalistischen System zu begreifen ist. Sie als eigenständige ideologische und politische Kraft zu denken, findet praktisch nicht statt. Problemfelder des Kulturkampfes und des politischen Kampfes um die »richtigen« Lösungen wie die der Identität, der Kultur, der Integration oder verschiedener Präferenzen bezüglich der Staats- und Gesellschaftsorganisation werden aus der Betrachtung ausgeklammert. Zentrale Sichtweise ist hier, sehr klassisch marxistisch, eine ökonomisch-materialistische, die entweder all diese Probleme auf die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse und Systemübel des Kapitalismus zurückführt und mit seiner Beseitigung als erledigt ansieht oder als verschleiernde Nebelkerzen begreift, die vom eigentlich Problem, eben dem kapitalistischen System, ablenken sollen.
Dass das kapitalistische System grundverdorben ist und zwingend überwunden werden muss, wurde beim Zuhörer als geteilte Meinung vorausgesetzt und nicht weiter begründet, was glücklicherweise die sonst bei solcher Gelegenheit gerne auftretenden, langweiligen ökonomischen Debatten über systemische Vor- und Nachteile erspart hat, allerdings natürlich auch offen ließ, wie das bessere System denn nun aussehen soll und nicht nur wie man es revolutionär erreicht, aber ich denke bei Interesse kann man dazu sicher eine Publikation der IYSSE finden. Wir werden jetzt aber erst einmal mit dieser Grundbedingung weiter arbeiten
Herr Wurm ging dann in den ersten Teil hinein. Er wies daraufhin, dass für die Beurteilung der Herkunft der AfD allein schon die Anschauung der 90 Abgeordneten, die durch die Bundestagswahlen im vergangenen September in den Bundestag eingerückt waren, ausreichend sei. Diese würden sich zu einem nicht kleinen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der anderen etablierten Parteien, vornehmlich CDU und FDP aber auch SPD und sogar einer Person aus der ehemaligen WASG (einer Vorgänger-Organisation der Linkspartei) rekrutieren. Ebenso das wir bei den AfD-Abgeordneten neben einer Nähe zum politischen, auch eine starke Nähe zum staatlichen Betrieb erkennen könnten, so kämen sie aus der Justiz, der Polizei oder dem Militär. Gruppen, die jede linke Parteiung freilich als kritisch betrachten muss.
Als Beispiel wurde dann Alexander Gauland herangeführt, der ein langjähriges CDU-Mitglied gewesen war. An der Stelle zitierte man auch noch einmal aus seiner Kyffhäuser-Rede („Leistungen deutscher Soldaten“) und verwies dabei auf Verbrechen der Reichswehr und der Wehrmacht und rückte die Aussage in die Näher einer Verherrlichung des Vernichtungskrieges. Ein zweites Beispiel gab Jens Maier mit seiner kürzlichen – zu verurteilenden – Beleidigung von Noah Becker als „Halbneger“ ab.
Doch war die AfD erst der Auftakt. Denn, so Wurm, solche Aussagen und Denkungsarten seien kein exklusives Problem der AfD sondern in allen politischen Parteien verbreitet und würden auch dort und generell immer freier geäußert. Es folgte dann eine Reihe von Beispielen.
Zunächst wurde hier Manfred Weber, CSU, herangezogen, der von einer finalen Lösung der Flüchtlingsfrage sprach, wo der Vortragende freilich nur auf semantischer Ebene die Verbindung zur sogenannten Endlösung der Judenfrage herstellte. Entweder intendierte und zumindest hingenommene Wirkung: Den Eindruck erwecken, hier plane ein Politiker die Deportation und Vernichtung von Flüchtlingen.
Mit der CSU ging es aber direkt weiter, denn als nächstes war Dobrindt dran. Dieser hatte sich kürzlich in einem Gastbeitrag für die Welt (leider kann ich dank Paywall den Artikel nicht im vollen Zusammenhang abrufen und bin daher auf andere Seiten angewiesen, die zitieren oder sinngemäß wiedergeben) für eine „konservative Wende“ ausgesprochen. Im Vortrag wurde jedoch die Formulierung „konservative Revolution“ scharf kritisiert. So als hätte Wurm direkt aus einem kürzlich erschienenen Beitrag des European abgeschrieben, wird Dobrindt allein für die Semantik des Begriffes angegangen. Konservative Revolution bezeichnet abseits des Wortsinns – und wir dürfen wahrscheinlich annehmen, dass Dobrindt den Wortsinn meinte, da er keinen Bezug zu Denken oder Theorien aus dieser Bewegung herstellt – eine historische lose Gruppe von Intellektuellen in der Weimarer Republik, die rechte Gesellschaftstheorien in Abgrenzung zum herrschenden demokratischen System der Republik entwickelte.
Das revolutionär bezeichnet dabei zunächst eine auf konservativen Werten basierende Gesellschaft her- oder wieder herzustellen, die der Bewahrung wert wäre. Manche sympathisierten offen mit den Nationalsozialisten andere arrangierten sich mit ihnen oder lehnten sie auch ab. Sie, gerade ob ihres geringen Einflusses zu der Zeit und des geringen Einflusses auf die nationalsozialistische Ideologie, da waren andere Theoretiker weitaus federführender, als Wegbereiter des Faschismus zu bezeichnen ist gewagt. Auch widerspräche das eigentlich der Argumentationslinie von Wurm, dass es nicht um Ideologie sondern um die Krise des Kapitalismus gehe. Aber tatsächlich forderte Dobrindt keine konservative Revolution, sondern nur eine konservative Wende. In einem späteren Artikel in der Welt wird er folgendermaßen zitiert:
„Darum formiere sich eine neue Bürgerlichkeit. ‚Auf die linke Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger.‘ „
Die Begrifflichkeit konservative Revolution wird analog zu den 68ern, auf die hier Bezug genommen wird, und die auch als 68er-Revolte oder 68er-Revolution bezeichnet werden, hier nur als etwas konstatiert, dass sich bereits vollziehe, nicht gefordert und nicht als ideologischer Begriff im Bezug auf die Konservative Revolution gebraucht. Herr Wurm und der Autor des European interpretierten die Stelle also falsch bzw. in einem auf Skandal abzielenden Sinn.
Aber auch die Kritik an den 68ern sei problematisch. Reichlich verkürzend, so wie es dann rhetorisch wieder gebraucht wird, reduziert Wurm die 68er vor allem auf eins: „Was hat sie ausgezeichnet?“, fragte er rhetorisch und benannte als das scheinbar einzige und wesentliche Anliegen, dass die alten Nazis angeprangert und rausgeworfen wurden. Die gesellschaftlichen Liberalisierungen, und deren Übertreibung, die Verlinkung der Institutionen und die Erlangung hegemonialer Diskursmacht, insbesondere peu a peu in den letzten Jahrzehnten, die allesamt Folgen der 68er waren und die Dobrindt klar auch in seiner Forderung nach einer ausgleichenden Rückkehr des Bürgerlichen adressiert, klammerte er aus. Logische Konsequenz, verpackt in eine weitere rhetorische Frage: Wen sich Dobrindt hier denn zurückwünsche? Die dem Publikum implizierte Antwort: Die Nazis. Muss man wissen.
Und mit den Nazis als Überleitung wird dann der verhasste Dozent Baberowski aufs Korn genommen. Der ist zwar dann in der anschließenden Diskussion auch noch einmal Thema gewesen, aber ich werde mich an den Vortragsablauf halten und das hier splitten. Angeführt wurde ein Interview „Die Linke macht den Menschen wieder zum Gefangenen seines Stands“ erschienen am 20.05.2017 bei NZZ Online, das sich sogar ausdrücklich auf den Konflikt mit IYSSE bezieht.
Angeführt wurde vor allem eine Formulierung, nämlich die Legitimation durch einen toten Diktator. Vollständig zitiert, dieser Abschnitt:
„Die Achtundsechziger setzten sich mit den Schrecken der Vergangenheit auseinander, aber sie legten zugleich den Grundstein für die Moralisierung des Politischen, indem sie entschieden, worüber und wie über die Vergangenheit noch gesprochen werden konnte. Seither ist der Widerstand gegen einen toten Diktator Legitimation genug, um sich moralisch über andere Menschen zu erheben. Alle anderen Bevormundungsstrategien folgen dem gleichen Muster. Wer über Rassismus, Kolonialismus, über Krieg und Frieden oder das Verhältnis der Geschlechter anders urteilt, als es der hegemoniale Diskurs erlaubt, wird moralisch diskreditiert.“
Baberowski spricht hier über Bevormundungsstrategien, Herr Wurm stellte es so dar, als wolle er Rassismus wieder sagbar und salonfähig machen, und bestätigte damit sogar eindrücklich, was Baberowski in dem Interview tatsächlich zum Ausdruck brachte. Es wird von ihm nicht kritisiert, dass Rassismus (et al.) nicht salonfähig oder sagbar ist, sondern dass die 68er bzw. in diesem Fall ihre Erben durch die Übernahme der gesellschaftlichen Hegemonie sich anmaßen allein darüber zu bestimmen, was rassistisch (et al.) sei und was nicht und damit nach Belieben Leute als Rassisten brandmarken und damit verächtlich machen können. Etwas das Wurm hier an Baberowski vornimmt, der allerdings mit einer Iranerin verheiratet ist und an anderer Stelle (ZEIT 16/2017) die multikulturelle Gesellschaft ausdrücklich begrüßt hat.
Aber dann war Schluss mit rechten Politikern und als nächstes bekamen dann linke Parteien ihr Fett ab. Zunächst Sigmar Gabriel. Dieser hatte im SPIEGEL einen Gastbeitrag mit dem Titel „Sehnsucht nach Heimat„, erschienen am 18.12.2017 auf SPON, untergebracht. Unter anderem stellte er für die SPD damit die Leitkulturfrage. Anlass für Wurm darauf hinzuweisen, dass sich hier eine Position der rechten CSU inzwischen auch in einer linken Partei durchsetze.
Außerdem habe Gabriel im Rahmen des Forums Außenpolitik der Körber Stiftung aus Sicht Wurms eine neue Großmachtpolitik Deutschlands gefordert. Auf der Checkliste können wir damit Imperialismus und Militarismus auch abstreichen. Der Text der Rede ist über die Seite des Auswärtigen Amtes abrufbar, besonderes Augenmerk Wurms zog dieser Abschnitt hier auf sich:
„Aber die Welt ist seitdem weit unbequemer geworden als wir am Ende des letzten Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dachten. Und nun merken wir, dass es selbst bei großer wirtschaftlicher Prosperität in unserem Land keinen bequemen Platz an der Seitenlinie internationaler Politik mehr für uns gibt.
Weder für uns Deutsche noch für uns Europäer.
Wir müssen einsehen: Entweder wir versuchen selbst in dieser Welt zu gestalten oder wir werden vom Rest der Welt gestaltet.
Werteorientierung, wie sie gern von uns Deutschen für unsere Außenpolitik in Anspruch genommen wird, wird allein jedenfalls nicht ausreichen, um sich in dieser von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Egoismen geprägten Welt zu behaupten.“
Gabriel nimmt hier Bezug auf Thesen Herfried Münklers. Eine scheinbare Abkehr von der Wertepolitik, wie sie hier propagiert würde, schmeckte dem Vortragenden gar nicht. Nun kann man sagen, dass es zum Allgemeingut gehören sollte, dass Staaten vor allem eines haben: Interessen, auch Werteinteressen und das nur weil wir darauf verzichten unsere zu erkennen oder durchzusetzen, es andere uns nicht automatisch gleich tun werden. Wir schaffen einzig einen Raum, in dem andere ihre Interessen, vielleicht reibungsfreier, wahrnehmen können, diese Interessen aber nicht mit unseren kongruent sind. Einzig auf Werte, ohne unmittelbare Durchsetzung bzw. Verteidigung, zu setzen, erscheint zwangsläufig naiv, angesichts von Mächten wie Russland, China oder auch den USA, die bereit sind ihre wirtschaftlichen, territorialen oder auch ideologischen Anliegen mit wirtschaftlichen oder militärischem Druck durchzubringen. Das impliziert bereits, dass jemand, der an diesem Spiel nicht teilnehmen möchte oder kann (bspw. durch eine schwache außenpolitische Position, wie sie inzwischen viele europäische Staaten gegenüber Supermächten wie den USA und Russland haben) und sich nicht einmal mehr des Verbundes mit Verbündeten, wie einem unter Trump unsicheren Amerika, sicher sein kann, in einer solchen Welt fremdbestimmt wird, wenn er nicht anfängt, selbst die Stimme zu ergreifen. Das ausgerechnet jemand, dem ich unterstellen würde, dass er einen us-amerikanischen Imperialismus anprangert, diesen Zusammenhang nicht sieht, erstaunt und bedient eher das eigene Narrativ von der vermeintlichen Wiederkehr des deutschen Imperialismus und Militarismus. Denn eine weitere ausgesuchte Stelle aus der Rede, die Wurm präsentierte, ist folgende:
„Ich finde, Münkler legt hier den Finger in die Wunde. Man muss aber auch daran erinnern, dass die Zeit, in der Deutschland sich strategische Ideen hat einfallen lassen, recht ungemütlich war für die anderen.“
Wurm ließ den Begriff „ungemütlich“ für einen Moment im Raum schweben, spuckte ihn danach mit gespielter Fassungslosigkeit aus, um seinem Publikum dann seine Deutung zu vermitteln. Aus Sicht Wurms waren die Momente, wo Deutschland sich „strategische Ideen“ hat einfallen lassen, nicht etwa vor allem ein außenpolitisch sehr aktives langes 19. Jahrhundert, in dem Deutschland sich auf der weltpolitischen und nicht nur innereuropäischen Bühne hervortun wollte und damit Konflikte mit den saturierten Großmächten zwangsläufig provozieren musste, sondern strategische Ideen seien die zwei Weltkriege gewesen. Wenn man Krieg als die Fortführung der (Außen)Politik mit anderen Mitteln begreift, dann mag an dieser Deutung vielleicht etwas dran sein, aber ich würde doch bezweifeln, dass Herr Wurm dieser Ansicht ist. Vielmehr, weil es in das Militarismus-Narrativ passt, stellte er es so dar, als wolle Gabriel mehr Kriege und als hätte er die vergangenen Verheerungen mit der Wortwahl „ungemütlich für die anderen“ schamlos verharmlost, obwohl das Zitat das nicht hergibt.
Und um ja niemanden zu verschonen, war zu guter Letzt auch noch die Linkspartei dran. Kronzeuge der zunehmenden Verrechtung war hier Dietmar Bartsch. Dieser hatte im Hauptstadtstudio der ARD nämlich Herrn Gabriel sekundiert, auch ein Ende des Duckmäusertums gegenüber den USA gefordert und Deutschlands Rückkehr auf die weltpolitische Bühne begrüßt, man kann sich aber wohl denken mit anderen außenpolitischen Schwerpunkt- und Stilsetzungen als SPD, CDU oder CSU sie wohl vertreten würden. Da das zu wenig Totalopposition ist, bleibt damit nicht aus, dass Wurm anmerkte, dass sich die Große Koalition scheinbar über alle Parteien des Bundestages erstreckt, für die Grünen war wohl wahrscheinlich nur kein passendes jüngeres Zitat zu bekommen.
Und natürlich darf eine ordentliche linke Linken-Schelte nicht ohne Quer-Frontfrau Wagenknecht und ihren Quer-Front(ehe)mann Oskar Lafontaine auskommen, die die Idee einer Open- oder No-Borders-Politik als naiv bezeichnet hatten und nachvollziehbar erläuterten, warum gerade ein Sozialstaat zwingend Grenzen braucht, um ökonomisch zu funktionieren, oder dass Frau Wagenknecht auch nicht einsehen wollte, warum wir Kriminellen das Gastrecht nicht wieder entziehen sollten. Herr Wurm sollte sich vielleicht noch einmal mit den Grundlagen der Ökonomie beschäftigen, der Knappheit der Ressourcen und der Schwierigkeit, sie gerecht zu verteilen. Wer über den Marxismus reden will, sollte von den wirtschaftlichen Grundlagen nicht schweigen.
Aber natürlich ist diese rein ökonomische Rationalisierung, die Wagenknecht und Lafontaine vorgenommen haben, aus Sicht Wurms, nicht weit von der AfD-Linie entfernt, selbst dann nicht, wenn sie auf anderen Grundlagen beruht. Auch das muss man scheinbar wissen.
Zumindest konsequent, wenn auch im studentischen Wahlkampf nur logisch, gab es an der Stelle ein lustiges Schmankerl, nämlich dass Herr Wurm, nachdem er mit seiner Tirade gegen die Linkspartei fertig war, dann auch noch meinte, dass die Leute, die hier „Neues Deutschland“ (faktisch Parteizeitung der Linken) und Aufkleber der Linksjugend Solid auslegen wollten, die wieder einpacken könnten, denn die Linken seien demgemäß auch nur eine weitere Partei des Kapitals und Steigbügelhalter der Rechten. Da offenbar auch einige Vertreter der Linksjugend im Raum waren, kühlte das die Stimmung ordentlich herunter, etwas zu dem wir später aber noch einmal kommen, wenn es um die anschließende Diskussionsrunde geht.
Anhand der vorgestellten Verworfenheiten in den Bundestagsparteien kam Wurm zu einer ersten Conclusio. Die Beispiele sollen einen Rechtsruck der etablierten Parteien belegen. Schon im SPD-Abschnitt seiner Ausführungen (ich habe es jetzt wegen des Zusammenhangs an diese Stelle gerückt) sprach er davon, dass die Äußerungen Gabriels so vor zehn Jahren nicht sagbar gewesen wären oder wenigstens einen medialen Skandal ausgelöst hätten, was zweifelhaft ist angesichts seiner merkwürdigen Interpretation. Tatsächlich waren Äußerungen Horst Köhlers zum Einsatz militärischer Mittel zur Bekämpfung der Piraterie Grund genug für einen Rücktritt, allerdings wurde seine Äußerung aus dem Zusammenhang gerissen und medial aufgebauscht. Ein wenig mehr Beharren hätte ihn wahrscheinlich nicht das Amt gekostet. Nun waren aber auch die Aussagen von Gabriel nicht einmal so ausdrücklich gewählt wie Köhlers direkte Worte im Jahr 2010. Aber selbst wenn wir dabei bleiben, wiederum zehn Jahre davor, wäre es wieder anders behandelt worden, weil sich Maßstäbe nun auch einmal ändern und an neue weltpolitische Gegebenheiten anpassen müssen.
Wenn man aber ein Übergewicht linker Diskurshegemonie, wie Baberowski es anspricht, als Maßstab anlegt, wirkt das natürlich wie ein eklatanter Rechtsrutsch. Wenn man jedoch am linken Rand steht, von dem aus sowieso alles rechts aussieht (siehe Linkspartei), dann fällt es natürlich schwer die linke Diskurshegemonie überhaupt anzuerkennen, weil sie noch nicht derart extrem geworden ist, dass sie (schon) zu den eigenen Gunsten ausfällt. Was aber deutlich wird: Es gibt nur eine Richtung, in die sich das Overton-Fenster legitimerweise weiter verschieben darf. Der Rest ist ein gefährlicher Rechtsruck, der direkt in den Faschismus führen muss.
Das war nämlich die Deutung die Wurm vornahm. Da die AfD nur Fleisch vom Fleische anderer Parteien sei, wären die Denkweisen, die man von Links an der AfD zu kritisieren hat, einschließlich der Perspektive, sie für die Wegbereiterin eines neuen Faschismus zu halten, auch in den anderen Parteien immer schon enthalten gewesen und hätten nur auf eine Gelegenheit gewartet. Die Wahl der AfD würde also von anderen Parteien „genutzt“, um die Pfeiler des Sagbaren nach rechts zu verschieben. Der Vollständigkeit halber muss man erwähnen, dass Wurm dies in der anschließenden Fragestunde etwas abschwächte, indem er hinzufügte, dass die Parteien ebenfalls den Fehlschluss ziehen, sie müssten in Reaktion auf die AfD auch weiter nach rechts rücken, um die Wähler abzuholen. Der Gedanke des Nutzens oder Ausnutzens blieb aber zentral.
Die aufgeworfene Frage nämlich, warum die Entwicklung nach rechts geht, beantwortete Wurm mit Bezug auf Georg Diez (den er relativ frenetisch lobte), einem Kolumnisten des SPIEGEL, der in einigen Beiträgen (zuletzt zu Neujahr) den Kapitalismus einer Kritik unterzogen hat, der zumindest in der Problemfeststellung ich nicht einmal völlig widersprechen würde. Was aufgezeigt werden sollte ist, dass der Kapitalismus, so Wurm, die Ursache einer allgemeinen Krise, zunächst des Sozialen und dann damit der Gesellschaft („Spaltung der Gesellschaft“) sei, die zu einer Krise der Demokratie würde, die Diez selbst mit dem Hinweis auf eine Verbindung von Autoritarismus und Kapitalismus im Trumpschen Amerika und Putins Russland so in „Krise des Systems: Demokratie ist nicht Kapitalismus„, erschienen am 07.01.2017 auf SPON, andeutet. Als erweiternde Belege für die Krise ging Wurm an der Stelle zum Beispiel auf die Phänomene geringfügiger Beschäftigung, mehrerer Jobs und trotzdem grassierender Armut und geschönter Arbeitslosigkeitsstatistiken ein.
Hier stieg er dann selbst ein, um von Diez auf die marxistische Faschismustheorie umzulenken. Diese hat einen eigenen Ansatz gefunden, um ein politisches Phänomen wie den Faschismus in das materialistische Weltbild einzuordnen und begreift den Faschismus als eine Art finale Form des Kapitalismus. Neben der moralischen Kritik war Marx‘ ökonomische Hauptkritik am Kapitalismus ein Konstruktionsfehler, der auch zum zwangsläufigen Scheitern des Systems führen würde, dass sich das Kapital zunehmend in immer weniger Händen akkumulieren würde und die damit einhergehende Verelendung der Massen schließlich die Revolution auslöst. Das kapitalistische System würde aber solange versuchen wie möglich an der Macht zu bleiben (weil die Besitzenden natürlich ihre Besitzstände wahren wollen) und wäre demnach gezwungen, zu immer autoritäreren und schließlich brutaleren Methoden zu greifen, um die Massen bei der Stange zu halten. Der Faschismus ist in dieser Theorie damit dem Kapitalismus inhärent, da er irgendwann nötig wird, um die revolutionäre Bedrohung des Systems im Zaum zu halten.
Allerdings ging Marx dabei von einem ungehemmten Lauf der kapitalistischen Verfahrensweise aus, die vorsah, dass die bürgerlich-staatliche Autorität einzig die Besitzenden schützen, statt die Interessen der Massen jemals in die Betrachtung ziehen würde. Eine stetige Umverteilung, wie sie das reformistische Agieren der Sozialdemokratie bspw. erreichte oder im Fall der Sozialgesetzgebung von den Eliten (hier Bismarck) erzwang, war da noch gar nicht vorgesehen. Die wiederum führte zu einer Streuung des Kapitals und verhinderte den von Marx prognostizierten Infarkt. Richtig ist, dass die Akkumulation wieder zunimmt, aber angesichts dessen wirbt Herr Diez in dem von mir angeführten Beitrag auch für eine Reformierung, nicht eine Überwindung des Kapitalismus.
Der Rechtsruck, den wir in unserer Gesellschaft also beobachten, verstehen Wurm und seine Partei als einen Ausdruck der kapitalistischen Systemkrise, womit sie natürlich völlig die gesellschaftlichen, nicht wirtschaftlichen Probleme außer Acht lassen, die z.B. der AfD mehr noch die Wähler zutreiben, als deren doch eher verhaltene Anprangerung sozialpolitischer Missstände. Auch wenn sie latent vorhanden ist, macht die AfD mit den Kosten der Zuwanderung, weniger mit dem Schreckbild von Arbeitsplätzen, die in Massen weggenommen werden, Politik. Eher noch geht die Kritik an einwanderungsbedingter Lohndrückung in eine solche Richtung. Die sozialen Kosten des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer Einwanderunsgesellschaft sind das eigentliche Pfund, mit dem die AfD wuchert. Aber diese Dinge finden, wie eingangs erwähnt, in dieser Betrachtung auch nur als Seitensymptome des kapitalistischen Systems wenn überhaupt Beachtung. Eine rein materialistische Reduktion, wenn man so will.
Weil die anderen Parteien, weil sie das System entweder direkt unterstützen oder zumindest nicht mehr überwinden wollen (wie er es der Linkspartei unterstellt), sind sie selbst als politische Träger des kapitalistischen Systems anzusehen und natürlich Teil des Rechtsrucks. Gleichzeitig sei in den Parteien das Bewusstsein für die Systemfehler des Kapitalismus und dessen notwendige Überwindung verloren gegangen, er verweist dabei auf das Ahlener Programm der CDU, das in dieser Hinsicht sehr kapitalismuskritisch war. Weil diese Parteien jetzt einsehen müssten, dass eine progressive Politik innerhalb eines krisenhaften Kapitalismus nicht mehr möglich sei, aber gleichzeitig blind geworden seien für die antikapitalistische Alternative, würden sie Deutschland mit der AfD als genutztem Zugpferd voran, auf einen autoritären Kurs führen, der schließlich faschistische oder proto-faschistische Züge annehmen könne – die Kronzeugen hatte Wurm eingangs bereits berufen – um das System trotz der Krise aufrecht erhalten zu können. Das schließe Rassismus, Großmachts- und Kolonialpolitik ebenso ein wie neue Kriege, Überwachung und die Aushöhlung von Grundrechten bis hin zur Abschaffung der Demokratie.
An dieser Stelle beendete er den ersten großen Teil seiner Ausführungen, um dann auf die Lehren aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu sprechen zu kommen. Hierbei wird sich Wurm auch häufiger auf die Hitler-Biographie Ian Kershaws beziehen.
Historische Bedingungen der Machtergreifung
Den Anfang bildete eine Darstellung der historischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation der 30er Jahre unter denen die Nazis an die Macht gekommen waren. Relativ anschaulich wurde von ihm das von der Wirtschaftskrise (hier auch als Großkrise des Kapitalismus ausgedeutet) verursachte (und ich will anmerken politisch verschlimmerte) soziale Elend der Weimarer Republik dargestellt und mit einem Rückbezug auf die wirtschaftliche Situation Jetzt-Deutschlands garniert („Armut trotz Arbeit“).
Es wird hier schon deutlich, dass die Lehren aus den 30ern bedeuten sollen, eine historische Kongruenz zwischen der damaligen und jetzigen Situation herzustellen, um daraus dann Handlungsempfehlungen abzuleiten. Die wirtschaftlich-soziale Situation heute, wäre gemäß Wurm mit der damaligen vergleichbar.
Der nächste Punkt war entsprechend der schon geleisteten Ausführungen eine Bezugnahme auf Leo Trotzki, der den Faschismus als eine notwendige Form des Kapitalismus erklärte und zwar in der Krise. Diktatur und verschärfte Herrschaft (Gewalt, Unterdrückung bis hin zur Ermordung) wären, so die Theorie, die einzigen Mittel um eine prekäre Gesellschaft noch zu kontrollieren und da der Kapitalismus unweigerlich auf prekäre Zustände hinauslaufe, würde er irgendwann ein faschistisches System einführen.
Hier müsste man allerdings einhaken, dass jede Wirtschaftskrise in jedem politischen System, dazu noch verbunden mit den falschen politischen Weichenstellungen immer auch soziale Unruhen und ggf. auch Revolutionen nach sich ziehen kann, insbesondere wenn die Grundbedürfnisse wie Ernährung und Wohnung davon betroffen sind. Das feudal-merkantile (vorkapitalistische) System Frankreichs wurde nicht wegen einer kapitalistischen Systemkrise sondern wegen einer veritablen Hungerkrise, ausgelöst durch Missernten, hinweggefegt. Auch zeichnete sich die Weltwirtschaftskrise der Weimarer Zeit nicht durch einen Kapital-Infarkt, wie ihn Marx als kapitalistisches Endstadium prognostizierte, aus. Häufig wird von kommunistischer Seite eine ökonomische Krise (und an der Ökonomie hängt immer das Soziale) direkt mit einer Krise des ganzen Wirtschaftssystems oder -verständnisses verwechselt. Für die eigene wirtschaftstheoretische Historie legt man jedoch nicht die gleichen Maßstäbe an. Die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion oder Maos Großer Sprung zum Beispiel, die nicht nur in ihren wirtschaftlichen Folgen (Produktionseinbrüchen und Hungersnöten) verheerend waren, sondern die gleichen autoritären, repressiven und mörderischen (GULag) Maßnahmen der Herrschaftssicherung gegenüber der prekären aufgebrachten Bevölkerung hervorbrachten, wie die, die Wurm als faschistisch kritisiert, werden nicht als Scheitern des Kommunismus interpretiert. Hier fällt die Schuld dann Mao oder Stalin zu, die nur nicht den richtigen Kommunismus verwirklicht hätten. Also können wir ruhig noch einen Anlauf starten, diesmal unter trotzkistischen Vorzeichen, wenn es nach der IYSSE ginge.
Aber erstmal weiter mit dem Faschismus. Die Tendenzen dazu wären auch in der Weimarer Republik bereits erkennbar gewesen, die zu einer autoritären Herrschaft neigte, in Form von Hindenburg, der wiederum mit einer halb-diktatorischen Notverordnungspolitik in den letzten Jahren vor Hitler regieren ließ. Als Beispiel führte Wurm hier den sogenannten Preußenschlag an.
Die Vorbedingung in der bereits erhitzen politischen Situation (politische Morde, Straßenkämpfe, Radikalisierung) stellte die Aufhebung des Verbots der politischen Kampfverbände der NSDAP, SS und SA, dar, die die Kämpfe mit den Verbänden anderer Parteien wie dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (SPD-nah) und den Anhängern der kommunistischen KPD wieder aufnahmen. Ein solcher Zusammenstoß war der Altonaer Blutsonntag, bei dem eine unter Polizeischutz stehende Parade der SA in einem Viertel der Arbeiterparteien in Altona zu einer Auseinandersetzung führte, die schließlich in Schießereien gipfelte.
Diese Ausschreitung schob die rechtskonservative Reichsregierung unter Franz von Papen dann als formalen Grund vor im Preußenschlag die von der SPD geführte Regierung des Freistaates Preußen (seinerzeit das größte Teilglied des Deutschen Reiches) abzusetzen und durch einen Reichskommissar im Auftrag der Reichsregierung zu ersetzen. Damit fand laut Wurm die endgültige Machtkonzentration bei den Konservativen statt. Der von ihm zitierte Kershaw bezeichnete den Preußenschlag als „Vorbild für die Machtübernahme“ Hitlers.
Der nächste Punkt von Wurms historischer Herleitung waren die Wahlergebnisse der Reichtagswahlen 1932. Die wichtigsten Punkte, auf die er aufbaute, waren, dass Hitler nicht durch demokratische Mittel an die Macht gelangte, da er es niemals zu einer absoluten Mehrheit brachte und das die Wahlergebnisse der NSDAP bereits nach dem Ende des sogenannten Kabinetts der Barone sanken. Auch waren die Arbeiterparteien SPD und KPD zusammen nach den Wahlergebnissen auch stärker als die NSDAP. Die Kanzlerschaft und spätere Machtübernahme Hitlers geschahen also nicht in der stärksten Stunde der Nazis, sondern schon als sie langsam auf den absteigenden Ast kamen. Wurms Schlussfolgerung: Hitler musste sich stets auf andere Kräfte stützen, um an die Macht zu gelangen.
Diese Rolle fällt hier den Rechtskonservativen zu, diese mussten bereits dort, wo die Nazis an der Regierung beteiligt wurden, nämlich in Thüringen, erkennen, mit welchen Leuten, sie es zu tun hatten. Sie bestellten sie aber dennoch oder aus Wurms Sicht gerade deswegen. Sie stellten entgegen ihres Namens nämlich keine Gefahr für das kapitalistisch-bürgerliche System dar. Hitler hatte bei einem Treffen mit Industriellen bereits versichert, dass er die sozial-revolutionären Kräfte seiner eigenen Partei unter Kontrolle habe, mithin die sozialistische Rhetorik seiner Partei mehr Schein als Sein sei. Die NSDAP sei deshalb als Partei des Kapitals anzusehen.
Das Bündnis zwischen bürgerlichen und konservativen Kräften und den Nazis wurde am Tag von Potsdam inszenatorisch besiegelt. Wurm blendete hierfür den symbolträchtigen Händedruck zwischen Hitler und Hindenburg ein. Er stellt den Vorgang jedoch so dar, als hätte sich hier eine gegenseitige Anbahnung von Faschismus und dem alten preußischen Militarismus, der Tradition und Bourgeoisie ergeben.
Unterschlagen wurde, dass die gesamte Veranstaltung von Joseph Goebbels im Stile alter Kaiserempfänge inszeniert wurde, gerade um die Nazis unter den bürgerlichen, traditional-konservativen und auch monarchischen Kräften erst salonfähig zu machen. Diese Kreise mochten zwar autoritär eingestellt sein, sahen in Hitler und seiner Partei aber nach wie vor proletarische Emporkömmlinge, denen sie nicht trauen oder etwas zutrauen konnten. Statt einer gemeinsamen Feier der Machtübernahme war es also eher eine notwendige Imagepflege der NSDAP auf konservativer Seite. Man könnte sagen, dass Wurm hier sogar der intendierten Inszenierungsabsicht der Nazis aufsaß.
Den Abschluss der wurmschen Herleitung bildete dann auch das Ermächtigungsgesetz. Bereits im Zuge des Reichstagsbrandes und der Kanzlerschaft Hitlers wurden die Nazis nicht nur in der Regierung, sondern generell physisch in den Staatsapparat integriert. So assistieren Hilfspolizisten der SA in Uniform der Schutzpolizei und es wurden staatlicherseits erste (wilde) KZs aufgebaut. Das Ermächtigungsgesetz bildete dann als dessen rechtliche Stütze den letzten Schritt der Transformation ab. Hier stimmten nicht allein die Nazis sondern auch ihre (rechts)konservativen und bürgerlichen Verbündeten dem Gesetz zu und machten damit den Weg zur Machtübernahme frei. Wurm weist du daraufhin, dass auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (später FDP) dem Gesetz zustimmte.
Zusammengefasst sagte Wurm, dass Hitlers und die NSDAP eine Klientel-Partei des kapitalistischen Systems gewesen sei, ihre Macht und Vollmachten sowie ihre Machtergreifung maßgeblich von den bürgerlichen Parteien vorangetrieben wurde, die zuvor bereits den Weg in eine autoritäre Herrschaft geebnet hatten. Dies sei geschehen, weil die Nazis als faschistische Kraft gebraucht wurden, da das kapitalistische System mit normalen Mitteln angesichts der ökonomischen Krise nicht mehr regierbar war.
Wurm ließ allerdings offen, ob es sich hierbei aus seiner Sicht um einen zumindest offenen Plan der Konservativen oder um eine politische Eigendynamik gehandelt habe.
Neben dem Erkennen des Problems, einerseits dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus und andererseits des Erstarkens des Faschistischen in der sozio-ökonomischen Krise, kommt Wurm noch auf den Widerstand zu sprechen. Die Führung der KPD und der SPD hatten sich seinerzeit als unfähig darin erwiesen, die Nazis zu bekämpfen. Hier wandte der schon zuvor erwähnte Vertreter der Linksjugend einigermaßen lautstark ein, dass das schwer möglich war, weil die Führung der KPD bereits im Gefängnis saß, Wurm bezog sich fairerweise allerdings schon auf den Zeitraum vor der direkten Machtergreifung, in dem es SPD und KPD nicht gelungen war eine einheitliche Front gegen die Konservativen und letztlich die Nazis zu bilden. Er merkt dazu an, dass obwohl die Arbeiterparteien zusammen stärker als die Nazis waren, diese an die Macht gelangen und das System umbauen konnten, ohne das auch nur ein Schuss gefallen wäre.
Hauptverantwortlich war für ihn vor allem die SPD. Diese ließ in den frühen Jahren der Weimarer Republik die KPD erst zusammenschießen, unterstützte dann die Wahl von Hindenburg, nur um dann von ihm und seinen Gewährsmännern faktisch weggeputscht zu werden. Statt also, wie es ihr für eine Arbeiterpartei angestanden hätte, im Schulterschluss mit der KPD zur Not die proletarische Revolution anzustreben und damit die Nazis abzuwehren, hatte sie lieber im Zweifel den Schulterschluss mit den bürgerlichen Kräften und damit dem Kapitalismus gesucht. Da der Kapitalismus den Faschismus schon in sich trägt, müsse man die SPD, die den Kapitalismus so unterstützte, und den Faschismus als Zwillingsbrüder begreifen. Dies hätte vor allem den historischen Bruch zwischen der SPD und der KPD ausgelöst.
Zum Thema des Gegensatzes zwischen revolutionärem Umsturz (KPD) und evolutionärer Reform (SPD) verliert Wurm an der Stelle freilich kein Wort. Tatsächlich hatte die SPD mit einer sozialen Reformpolitik bis zu diesem Punkt mehr Erfolge darin nach den Maßstäben der Zeit die Bedingungen der Arbeiter zu verbessern, als revolutionäre Träumer, die alles sofort haben wollten. Auch erschöpfte sich der Konflikt darin nicht, sondern die SPD stand im Gegensatz zur KPD auf Seiten der Republik, während die KPD auch ihr Ihriges dazu beitrug, die Demokratie der Republik zu bekämpfen und zusammen mit den Nazis das instabile politische Klima zu schaffen, in dem Menschen sich immer nach Ordnung und Führung sehnen werden.
Aber wenigstens entließ Wurm auch die KPD nicht ungeschoren aus seinen Ausführungen, zitierte hierzu Thälmann mit: „Nach den Nazis kommen wir“ um aufzuzeigen, wie realitätsfern und sachblind, sich die KPD-Führung verhielt. Da muss man anmerken, wenn man die Wirtschaftskrise als finales Stadium des Kapitalismus begreift, dann stand laut der Denkschriften der marxistischen Theorie, von der man überzeugt war, die Revolution kurz bevor und sie könne von keiner Kraft mehr aufgehalten werden. Insofern dachte Thälmann innerhalb des kommunistischen Denkkomplexes nur folgerichtig. Was aber auch von Trotzki, hier vermittelt durch Wurm, in „Was nun?“ auch kritisiert wurde, dass nämlich die KPD und die sowjet-russisch dominierte Kommunistische Internationale (KomIntern) unfähig gewesen wären, eine Debatte über die Ursachen zu führen. Er schlug deshalb die Gründung einer 4. Internationalen vor.
Nun will Wurm sicher Lehren ziehen und da muss man auch historische Fehler offenlegen, allerdings erinnert das Ganze dann doch sehr an »Die Nachgeborenen wissen es immer besser« allein weil sie das Ergebnis kennen. Dem Ganzen liegt freilich auch eine Denkungsart zu Grunde, die die Handlungsalternativen als in jedem Fall besser bewertet. Man könnte versucht sein zu setzen, dass alles besser als die Nazis gewesen wäre und blendet dabei die Möglichkeit aus, dass es genauso schlimm hätte auch auf der anderen Seite enden können. Im Zuge einer proletarischen Revolution, wenn also die Schüsse gefallen wären, die sich Wurm so sehr gewünscht hätte, wäre die Folge zwangsläufig ein massiver Bürgerkrieg gewesen. Zunächst wohl noch zwischen Arbeiterparteien und Nazis aber die republikfeindliche KPD hätte dann freilich der SPD, die dann als einzige republiktreue Kraft verblieben wäre, ebenfalls den Kampf angesagt, wenn man in der Lage gewesen wäre, die Nazi-Bedrohung zu überwinden. Sozialistischer Bruderkrieg sozusagen. Neben den Verheerungen die allein der Bürgerkrieg angerichtet hätte, wäre nicht gesagt gewesen, dass die SPD sich hätte durchsetzen können. Ich denke das wäre für Wurm auch nicht das erwünschte Ziel gewesen. Eine in der KomIntern organisierte siegreiche KPD hätte aber gewiss als Satrapen-Partei unter der Fuchtel Moskaus und damit Stalins gestanden. Die Bandbreite hätte von der gewöhnlichen kommunistischen Umerziehung und Zwangsherrschaft bis hin zu Stalinismus in Mitteleuropa reichen können. Selbst ein (Welt)Krieg wäre damit noch längst nicht vom Tisch gewesen, angesichts eines von kommunistischen Staaten eingekreisten Polens und einem Westeuropa als zu schleifender kapitalistischer Bastion. Man hätte sich also im schlimmsten Fall das KZ mit dem GULag erspart. Nun ist der Nationalsozialismus etwas, das wir in seinen Folgen genau kennen und die Alternative einer proletarischen Revolution zumindest in Deutschland nur Spekulation, aber wenn wir schon über alternative Geschichtsverläufe spekulieren, sollte man die Historie der kommunistischen Terrorherrschaft, insbesondere unter Stalin, dann nicht ausklammern und auch klar über den Preis sprechen, um den man die NS-Herrschaft auf kommunistische Weise hätte vermeiden können. Mir erscheint beides nicht sonderlich erstrebenswert. Warum nicht vor allem die KPD ins Gebet dafür nehmen, dass sie die Demokratie in Weimar bekämpft hat, statt die SPD zu unterstützen? Ach ich vergaß, der Kapitalismus, und es gibt ja kein richtiges Leben im Falschen.
Die Lehren aus den 30ern? Trotzkistische Weltrevolution!
An dieser Stelle schloss Wurm dann seine historischen Ausführungen. Und kam zum abschließenden Part: Nämlich die Lehren, die für die Gegenwart zu ziehen wären. Dass er die Situation von heute mit der von damals für vergleichbar hält, war ja schon im ersten Teil seiner Ausführungen etabliert worden. Er rekurierte für die Zuhörer noch einmal gesammelt auf die Zunahme autoritärer und konservativer Tendenzen und der Aushöhlung von Grundrechten im Zuge einer Stärkung der Überwachung. Als Beispiel brachte er allerdings die Foto-Fahndung im Zuge der Ermittlungen zu den G20-Krawallen ins Spiel.
Das ist nun verdammt dünnes Eis angesichts der Ausschreitungen und Vermummungen insbesondere für eine anti-kapitalistische Partei, die die Kleinwagen von Altenpflegern abfackelt, Discounter plündert und danach die Stadt in einem Zustand hinterlässt, bei dem die Anwohner dann den Rest des Wochenendes dazu nutzen müssen, um den Saustall wieder aufzuräumen. Schäden sozialisieren? War das nicht bisher immer angeblich das Prinzip von Banken? Und wir sprechen über die gleiche Fahndung, wo vor kurzem wegen undichter Stellen eine bundesweite Razzia vorher durchgestochen worden ist und auf Social Media dann passend »Tipps« in linken Kreisen herumgingen, noch rechtzeitig Beweismaterial verschwinden zu lassen. Sehr dünnes Eis.
Wurm stellte aber weiter fest, dass keine Partei mehr revolutionäres Potenzial besitzt und dass das, was sich heutzutage noch links nennt, eigentlich keine linken Parteien mehr seien (einschließlich der Linkspartei). Diese Pseudo-Linken seien heute Teil des Systems und stellten den Kapitalismus nicht mehr fundamental proletarisch-revolutionär in Frage. Hier will ich ein weiteres Mal auf den Unterschied von evolutionärer Reform und revolutionärem Umsturz verweisen. Aber es wird noch ärger. Denn Wurm hatte suggeriert, dass die heutige Linke maßgeblich für den Aufstieg der AfD mitverantwortlich sei. Als Beispiele führte er an, dass überall dort wo SPD und oder Linke regierten, derzeit die AfD mit großen Gewinnen aus den Wahlen hervorgehe oder das im Fall der griechischen Schwesterpartei der Linken, Tsipras‘ Syriza, sogar offen mit Rechtspopulisten (hier ANEL) von links aus koaliert wird.
Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass dies vor allem deshalb gemacht wird, weil sich beide Parteien gegen das Eurosystem und die europäische Finanzlenkung gestellt haben, die Griechenlands Souveränität bezüglich einer eigenen Ausgabepolitik beschneidet. Tsipras kann wegen der Sparauflagen und wegen des Euros nicht so sozial regieren und Ausgaben leisten, wie er es gerne würde und sieht das europäische Finanzsystem für diesen Teil seiner Souveränität ebenso als eine Hürde wie nationalistische Rechte. Dieses Beispiel ist weder mit den Ausführungen zum Kapitalismus noch zum Faschismus kongruent, die Wurm bereits geleistet hat.
Weil es für die linken Parteien gar nicht mehr möglich oder denkbar wäre eine „progressive“ (gemeint ist eine proletarisch-revolutionäre) Politik zu machen, würden sie wie in den 1930ern darin versagen, Antworten gegen Rechts zu finden. Stattdessen würde „Rechts“ damit als einzige Alternative dargestellt. Das bedeutet für Wurm, dass die heutige etablierte Linke genauso bekämpft werden muss wie die Rechten.
Abschließend empfahl er diesbezüglich seine Partei IYSSE, die bereits den »rechten« Professoren entgegen getreten sei, und die Bewegung deren Teil sie sind, nämlich die einer 4. (Trotzkistischen) Internationalen, da es sonst niemand anderen gäbe, der den Job machen könne. Eine wirkliche Linke müsse von ihnen erst aufgebaut werden. Der Kapitalismus soll zerstört werden. Daran wollen sie sich beteiligen und auch aufzeigen, wie die Universitäten in rechte Politik eingebunden seien.
Anschließende Diskussionsrunde
Nachdem er seinen Vortrag mit der Forderung nach der Überwindung des Kapitalismus und der Aufforderung zur wahl seiner Partei bei den kommenden Studierendenparlamentswahlen beschlossen hatte, gab es die Möglichkeit Fragen zu stellen, Anmerkungen vorzubringen und theoretisch zu diskutieren. Nach hinten heraus wurde dafür allerdings die Zeit etwas knapp.
Es gab noch einige Erläuterungen zur Frage der kapitalistischen Problemerkennung, da ging es vor allem um den Internationalismus und eine Kritik an den, aus Sicht Wurms, zu national denkenden Gewerkschaften, den ich an dieser Stelle wegen des Umfangs der vorherigen Ausführungen mal ausklammern will. Auch Fragen danach, inwiefern er selbst die Gefahr einer faschistischen Gesellschaftsübernahme sieht, will ich mal beiseite lassen. Da hatte doch tatsächlich noch jemand gefragt, obwohl eigentlich klar geworden sein dürfte, dass er die Situationen ähnlich und vermutlich ähnlich gefährlich einschätzen würde, wie in den 30ern. Proletarische Revolution besser früher als später lassen daran ja auch keinen Zweifel.
Bevor ich gleich zu den Diskussionsgegenständen komme, die ich interessant fand, will ich positiv hervorheben, dass sich die IYSSE zumindest gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) einsetzt, was sie einigen linken Parteien des Bundestages tatsächlich voraus hat.
Die Causa Baberowski
Baberowski war ja schon Thema des Vortrages gewesen und eine Zuhörerin, die wohl mit seinen »Gedankenverbrechen« nocht nicht so vertraut war, erkundigte sich, warum die IYSSE gegen ihn vorgehen musste. Ein exemplarischer Stein der Anstoßes war eine Aussage Baberowski in einem Gespräch mit dem SPIEGEL anlässlich des Historikerstreits eine These von Ernst Nolte über die psychologischen Grundlagen der stalinistischen und nationalsozialistischen Vernichtungsweisen. Nun ist er als Experte für Osteuropa zumindest in einer historischen Form qualifiziert darüber zu sprechen und Gemeinsameiten als auch Unterschieden in einer Debatte zu benennen und zu verteidigen. Ich hab die Diskussion seinerzeit im SPIEGEL, erschienen unter dem Titel „Der Wandel der Vergangenheit“ in SPIEGEL 7/2014, gelesen und fand die Argumentation vorsichtig ausgedrückt interessant. Im Gegensatz zu Stalin sei Hitler nicht grausam gewesen. Eine Aussage die sich rein auf den Vergleich der psychologischen Ausstattung zweier Diktatoren und nicht auf das ungeheure Ausmaß der Opfer bezieht. Das ist eine streitbare These, die diskussionsbedürftig aber diskussionsfähig wäre, wenn Baberowski sie begründen kann. Wurm arbeitete hier aber mit dem Ruch des Skandals.
Als scheinbare Bestätigung seiner Ansichten führte er gegenüber der Fragenstellerin auch an, dass Baberowski gegen die in diesem Zusammenhang ihm gegenüber erhobenen Zuschreibungen „rechtsextrem“ und „Geschichtsfälscher“ geklagt und verloren hatte. Was Wurm hier so hinstellte, als habe das Gericht damit die Richtigkeit der Vorwürfe bestätigt, aber das ist absurd. Die Urteile zielten darauf ab, festzustellen, dass es von der Meinungsfreiheit gedeckt sei den unbequemen Akademiker ungestraft so bezeichnen zu dürfen. Im Endeffekt also hatte das Gericht den Kritikern Baberowskis etwas zugestanden, nämlich begründet eine streitbare Meinung zu äußern, was diese ihm nicht durchgehen lassen wollten.
Drum nimmt es auch nicht Wunder, dass Wurm die Verteidigung Baberowskis aus den Kreisen der Bundestagsparteien als Bestätigung für seine kruden Thesen vom allgemein geteilten rechten Gedankengut in allen Parteien heranzog, obwohl auch hier die Verteidigung der Freiheit von Meinungen und der Freiheit eines akademischen Diskurses gegenüber mundtotmachenden Kritikern vermutlich im Vordergrund stand. Kürzlich haben wir in der Causa Rauscher an der Universität Leipzig ähnliche Szenen erlebt, bei denen die Uni-Leitung allerdings ihren Professor hatte fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.
Munteres Lupfen der Schottenröcke
Aber das Thema Kritik. Ich hatte ja versprochen, dass wir noch einmal auf den erregten Vertreter der Linksjugend zurückkommen werden. Der kam natürlich in der Fragerunde auch endlich zu Wort, nachdem der Vortrag bereits mit einigen Zwischenrufen seinerseits auskommen musste. Ich will dazu sagen, dass der Kerl leider weder argumentieren noch diskutieren konnte. Ständiges Unterbrechen, Drüberquatschen und Reinrufen, führen leider zu keinem sinnvollen Gespräch, insbesondere dann nicht, wenn die ständig wiederholte Aussage in etwa in die Richtung geht: Wenn ihr hier die ganze Zeit lügt, kann euch nicht einfach reden lassen. Außerdem hatte der junge Mann eine gewisse Obsession mit der katholischen Kirche. Also seine Wortbeiträge konnte man unter ferner liefen eigentlich ignorieren (und man stelle sich vor es wäre jemand von der Linksjugend dagewesen, der ebenso angriffslustig gewesen wäre aber intellektuell etwas auf dem Kasten gehabt hätte!) aber sie wirkten geradezu wie ein Katalysator um das unterhaltsame interne Linken-Bashing noch etwas mehr auszureizen, als es der Vortrag an sich bereits getan hatte.
Im Endeffekt führte das Ganze zu etwas, das man als großes Lupfen der Schottenröcke bezeichnen könnte. Denn ein wahrer Schotte ist ja bekanntlich nur, wer nichts unterm Kilt trägt. Und um wahre Schotten ging es auch hier. Die Feststellung wer denn nun die wahren Linken seien beschäftigte Wurm ja schon in seinem Vortrag und führte diesen Streit hier mit dem Anhänger der Linksjugend noch weiter.
Das manch ein Linker heutzutage schon soweit ist, zu sagen, dass die SED keine linke Partei gewesen sei, erscheint wie ein realitätsverlustiges Kuriosum, nimmt hier aber schon Züge einer veritablen Verdrängungsstrategie an. Es war längst nicht mehr Wurm alleine der antwortete. Es waren Mitstreiter seiner Partei anwesend und die bereits erwähnten älteren Gäste, Bürger der ehemaligen DDR, wie ich dann bald erfuhr und Unterstützer von Wurms Haufen. Eine Dame sprach, denn inzwischen stand das Bonmot im Raum, dass die SED den Kapitalismus im Osten wieder eingeführt habe. Eine kritische Nachfrage später, mochte sie dies erklären. Sie spricht von der „SED-Bürokratie“, wie von etwas Fremdartigen, einem Apparat, nicht auch einer ideologisch motivierten Partei, nicht vom Kommunismus. Ja diese „SED-Bürokratie“ habe die Arbeiterklasse in der DDR gegängelt und unterdrückt und das sei ja unkommunistisch. In etwa so wie die heutigen linken Parteien eben auch nicht mehr links seien.
Keine wahren Schotten und das überall. Den psychologischen Grund dafür schiebt sie uns aber gleich nach, um zu verstehen, wie sie den realexistierenden Sozialismus, denn als so unsozialistisch empfinden konnte. Als Trotzkistin gehörte sie nämlich einer Strömung der herrschenden Ideologie an, die nicht mehrheitsfähig war und war daher Repressionen ausgesetzt. Aber man selbst ist natürlich der wahre Schotte, in etwa wie christliche Sektierer über die Jahrhunderte auch immer wieder behaupteten, sie allein hätten die Offenbarung doch noch etwas besser verstanden, als die Mehrheitskirche. Und man mag es trotz des wohlfeilen Wunsches von Rosa Luxemburg „Die Freiheit der Andersdenkenden“ zu wahren, wohl als gesetzt ansehen, dass je größer das utopische Potenzial, um so weniger Abweichung vom ausgemittelten Pfad dorthin, kann toleriert werden, denn diese Abweichung könnte das Erreichen der Utopie an sich gefährden. Ich stelle mir gerade eine alternative Dimension unserer Realität vor, in der Stalinisten über die Unterdrückung durch trotzkistische Linke jammern und denen das Linkssein absprechen. Nicht dass diese Unterdrückungserfahrungen auch schreckliche Gestalt annehmen konnten. Wer sich einen Eindruck von den Behandlungen verschaffen will, die das SED-Regime Dissidenten angedeihen ließ, mag einmal eine Führung im Stasi-Gefängnis in Berlin Hohenschönhausen mitmachen. Es erscheint aber dennoch nicht wenig ironisch, wenn eine Frau über ein System sagt, dass auf einer ähnlichen Ideologie basierte wie die, die sie immer noch anstrebt, dass es diese Ideologie eigentlich gar nicht gehabt hat.
Aber kommen wir zur Wiedereinführung des Kapitalismus zurück. Hier spielt auch unser Freund von der Linksjugend eine wichtige Rolle, da er hier mal etwas von Substanz anmerkte, auch wenn er das freilich nicht rüberbringen konnte, weil er nur besserwisserisch dreinbrüllte. Begründet wurde dies nämlich darin, dass die SED nach der friedlichen Revolution den Weg freigemacht habe für die Privatisierung von Betrieben und die Treuhand. Hier merkte der Solid-Bursche an, dass die geplante SED-Treuhand freilich anders mit den Betrieben umgegangen wäre (ist freilich Spekulation aber ich glaube auch nicht das wir so eine ad hoc Privatisierung erlebt hätten) und das Problem war, dass bei den folgenden Wahlen die CDU eine Mehrheit erhielt und die ursprünglichen Pläne damit Makulatur waren. Stattdessen schnelle Wiedervereinigung mit ad hoc Privatisierung. Auch wenn die gute Dame dies versuchte mit Aussagen von Modrow aus dessen Memoiren (der vor allem Ruhe und Ordnung bewahren wollte) abzuschmettern, zeichnete sich hier doch eher ein Grundatzkonflikt in der Frage ab, ob die Privatisierung, egal wie sie stattfand, schon der Kern des Problems war. Der SED aber zuzuschreiben den Kapitalismus wieder eingeführt zu haben, erscheint doch sehr dünn.
Aber auch das könnte nur ein Durchbruch der Frustration darüber sein, innerhalb der sozialistischen Nomenklatura nur am Katzentisch gesessen zu haben. So hatten die Trotzkisten, also sie selbst, seinerzeit die Arbeiter aufgefordert die verstaatlichten Betrieben zu verteidigen und Räte gegen die Bürokratie zu bilden, um dann angepisst zu sein, weil die Bürokratie handelte, wie sie zu handeln gedachte oder weil die Arbeiter offenbar auch nichts von ihren Ideen hielten? Mal davon ab, dass die Treuhand tatsächlich einen beschissenen Job gemacht hat.
Gehört ihr nicht zu unserem Verein, schlagen wir euch die Köpfe ein
Der in diesem Zusammenhang beste Beitrag des Abends kam dann aber ganz unfreiwillig im Zuge dieses Streits auf. Eine, ich nehme mal an durchaus idealistisch bewegte junge Dame, schaltete sich in den Konflikt ein und bat darum, dass man sich doch nicht streiten solle. Schließlich müsste man doch zusammenhalten gegen die Verrechtung der Gesellschaft und verhindern, dass immer mehr Dinge wieder sag- und denkbar werden. Ideologische Differenzen seien doch unwichtig. An der Stelle sei mir der Einschub gestattet, dass ich den ganzen Abend auf dieser selbstgerechten Ebene wirklich unerträglich fand, dass das Overton-Window in keinster Weise auch nur ein bisschen nach Rechts zurück in die Mitte hätte verschoben werden dürfen. Eine legitime Verschiebung wäre nur, wenn es denn zugunsten der Linken ginge. Aber hier hatte offenbar jemand die Lehren aus 1930ern verstanden.
Nachdem dann aber noch ein wenig herumdiskutiert wurde, schaltete sich nicht nur Herr Wurm selbst wieder ein, der noch einmal erklärte, welcher antisozialistischen Ausrichtung, sich bspw. die Linke inzwischen schuldig gemacht hatte und ganz im Gegensatz zum zuvor stattgefundenen Gemoser über die Unfähigkeit der SPD und KPD gegen Hitler einen Kompromiss zu finden, wirkte dann auch, dass sich eine der IYSSE-Personen zu Wort meldete, die vorne bereits einen Tisch für die eigene Hausliteratur mit Klingelbeutel aufgebaut hatte.
Natürlich seien ideologische Details sehr bedeutsam und es gehöre schließlich dazu, sich im linken Spektrum zu streiten und zu diskutieren und für den richtigen Weg zu kämpfen (und sich wegen allgemeiner Kompromissunfähigkeit in immer kleinere sektiererische Plattformen aufzulösen). Da kann man freilich heilfroh drum sein, weil es die Gefahr eines Umsturzes mit all seinen vermutlich blutigen Folgen effektiv behindert, aber es wird auch deutlich, dass Linke mit abweichender Meinung auch bei den Trotzkisten nur solange erwünscht sind, wie sie eine brauchbare revolutionäre Schwungmasse abgeben. Man kann nur erahnen wie man den richtigen Weg mit Meinungsdissidenten und »Saboteuren« aushandelt, sobald der Kapitalismus überwunden ist, sich die Utopie aber noch nicht von selbst eingestellt hat. Wie wir bereits erfahren haben, kann man die linke Einheitsfront aber auch semantisch ganz leicht erschaffen, in dem man nach wahren und falschen Linken unterscheidet und letztere dann einfach ausgrenzt. So wird der scheinbare Widerspruch zu den eigens gezogenen Lehren dann eben auf theoretischer Basis aufgehoben.
Einen zentralen Fehler begeht hierbei die IYSSE eben bei der Feinderkennung. Die Linkspartei wird zu einem Problem und den Rechten irgendwie verwandt, weil sich im Gegensatz zu den 20ern und 30ern des vorigen Jahrhunderts ein Konsens etabliert hat, den Weimar leider entbehrte, nämlich den Konsens der demokratischen und republikanischen Ordnung. Während es nach wie vor Distanzen zwischen idealtypisch linkem und rechten Denken gibt und das satte Grau dazwischen, so streben die abseits der Ränder stehenden weltanschaulichen Blöcke (und da schließe ich die AfD und die Linkspartei ausdrücklich mit ein) nicht mehr aus der Demokratie hinaus, sondern sind sich vor allem in Bezug auf die weltanschauliche Ausgestaltung der Politik uneins, ein wenig euphemistisch ausgedrückt. Der revolutionäre, von Wurm progressiv verbrämte, Charakter einer stark linken Politik klassischen Zuschnitts kann nicht anderes gelten als radikal und demokratiefeindlich. So steht jemand, der sich zur Demokratie bekennt, selbst wenn er weltanschaulich mit allen anderen Kräften dort über Kreuz liegt, zwangsläufig näher an den bürgerlichen Kreisen, als diejenigen, die dieses System, aus welchen Absichten auch immer, umzustürzen gedenken. Während die Linkspartei hauptsächlich und in der Sache, auf dem Boden der demokratischen Ordnung steht (auch wenn Personen, Plattformen und auch ihre Jugendorganisation die Nähe zum linken Rand pflegen) und agiert, tut dies die IYSSE mit ihrer Forderung nach der Überwindung des Systems und dem offenen Kokettieren mit der Rhetorik und dem Ziel der Revolution eindeutig nicht.
Es erscheint daher, um zu meinen abschließenden Gedanken zu kommen, als fragwürdig, wenn allein die Idee der Gründung einer AfD-Hochschulgruppe nicht allein seitens der linken studentischen Kräfte sondern allgemein Bedenken bezüglich der Offenheit und Demokratie auslöst, während in einer Art rotem Hochschulsumpf seit Jahren Vereinigungen wie die IYSSE – und sie ist nur ein hier vorgeführtes Beispiel, diese oder ähnliche Denkweisen wird man in vielen linken Studentenparteien finden – mit ihrer antidemokratischen Gesinnung blühen können, ohne das dies im Fokus der Öffentlichkeit stünde und dass die Dominanz der Studentenparlamente und AstAs an Hochschulen mittlerweile auch zu Eingriffsversuchen in die Freiheit der Lehre und Forschung führt, wie die Beispiele Münkler und Baberowski oder kürzlich Rauscher an der Uni Leipzig zeigen.
Doch all dies bemäntelt man mit dem Begriff des Antifaschismus. Nun ist der Kampf gegen Faschisten sicher nichts, was einem guten Demokraten nicht gut zu Angesicht stünde, doch ist dies für Linke nichts als ein Alibi Begriff. Was für die IYSSE und andere als (proto)-faschistisch anzusehen ist, hat Wurm ausgeführt und jeder der nicht zu seinem Haufen gehört, sollte sich die Frage stellen, ob er nicht in Zukunft aus Sicht Wurms Teil des Problems sein könnte, das er zu lösen gedenkt. Was wir heutzutage mehrheitlich unter Begriff des Antifaschisten, der Antifa, verstehen, sind nichts anderes als die handgreiflicheren und übergriffigeren Auswüchse der Lehren, denen Wurm und seine Gesinnungsgenossen angehören und die sich nicht scheuen die Methoden derer anzuwenden, die sie zu bekämpfen vorgeben. Vom bis ins Persönliche hinein reichenden Terror, Sachbeschädigung, Körperverletzung zur Mundtotmachung von Gegnern und Abkapselung von der Gesellschaft. Drum möchte ich diese umfangreiche Wiedergabe an der Stelle damit beschließen, einen der älteren Gäste der IYSSE so getreu wie möglich wiederzugeben. Er sei nämlich froh, dass man uns (euch) den Antifaschismus so eingetrichtert habe, wie ihm in der DDR. Und es sei unglaublich wie hier (gemeint die BRD) die Antifa mit Füßen getreten werde.